Bildungsgespräch – Erdbeben in Chili

Heinrich von Kleists „Erdbeben in Chili“, ein Buch, dessen Existenz völlig an mir vorüber ging war heute Gegenstand eines 3 stündigen Bildungsgesprächs mit einem Erstsemesterchen mit den Studienfächern SozPäd und Deutsch. Sie möchte Berufsschullehrerin werden. Ein reizendes Ding. Hergestellt wurde der Kontakt durch eine Kollegin – ihre Mutter –  und meiner Unfähigkeit Gelegenheiten mit Ratschlägen um mich zu werfen auszulassen. Bis heute, so gegen 12h hatte ich nicht einmal mehr an das vereinbarte Treffen gedacht. 16h an der Universitätsbibliothek war der Plan. Allerdings war mir nach der Physiotherapiesitzung und dem schlechten Schlaf nachts so gar nicht danach jemandem bei seiner Hausarbeit zu helfen. Noch dazu über ein Thema, von dem ich nicht den leisesten Schimmer hatte. Also war der Plan sich zuhause ein wenig aufs Ohr zu hauen und in der verbleibenden Stunde nach dem Nickerchen mit der Raumtheorie Lotmans und dem Inhalt Kleists „Erdbeben in Chili“ auseinanderzusetzen. Dann noch schnell für das Blind Date mit der Dame die „rote Rose ans Knopfloch geheftet“ und ihr das Erkennungsmerkmal elektronisch mitgeteilt, damit wir nicht vor der Bibliothek unerkannt aufeinander warten. Als Grundlage diente der Wikipediaartikel zu Kleists Novelle und durch kurzes gegoogle aufpoliertes Wissen um Lotmans Raumtheorie. Lotmans Raumtheorie ist eine Erzähltheorie in der Tradition von Ferdinand de Saussures Strukturalismus.

Für Lotman ist das Ereignis die kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus. Klar soweit.

Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes
(Lotman 1972, S. 332)
Es geht immer um Grenzen. Räumlich, zeitlich, gesellschaftlich, auch können Neurosen des Individuums als solche Grenzen gesehen werden. Grenzen trennen Bereiche/ Phasen/ Systeme von einander ab. Die Sprache bildet den Raum ab. Hierbei spielen topologische Relationen eine Rolle (hoch vs. tief, rechts vs. links, oben vs. unten, innen vs. außen) – eine Arte binäres Oppositionsmodell. Der Raum wird durch Strukturen geordnet und begrenzt. Der Raum beschriebt hierbei immer die Beschaffenheit des Systems, die „Korrelation der Elemente untereinander und ihre Beziehung zum Strukturganzen“ (Andreas-Grisebach, Manon: Methoden der Literaturwissenschaft, München 1982, S.103).
Der Raum in dem sich „Das Erdbeben in Chili“ abspielt wird zu Beginn kurz und knapp eingeführt. Die Stadt St. Jago im Königreich Chili (etwaige Verwechslungen mit real existierenden Orten sind… naja… gewollt). Der Leser wird direkt ins Geschehen geworfen. Nachdem er kurze Angaben über Zeit und Ort erhalten hat, erfährt er, dass Jeronimo in seinem Gefängnis Selbstmord begehen möchte. Da der Leser bis zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Idee hat, wer dieser Jeronimo denn sein könnte, wird seine Geschichte in einem kurzen und knappen Flashback festgehalten:
Der Leser erfährt, dass der im räumlich begrenzten Gefängnis sitzende Bürgerliche, Jeronimo, einst Lehrer war, mit seiner adligen Schülerin wider der Empfehlungen ihres Vaters ein „liebevolles Einverständnis“ hatte, er daraufhin gekündigt und die Schülerin Josephe ins Kloster gesteckt wurde, dort jedoch entgegen aller Besserung im Klostergarten mit Jeronimo ein Kind zeugte, dieses mittlerweile geboren wurde und sich in der Obhut der Äbtissin befindet, Josephe zum Tode durch Enthauptung auf Bitten der Äbtissin beim Vizekönig „begnadigt“ wurde und ihre Hinrichtung unmittelbar vollzogen werden sollte und der arme Jeronimo nicht weiter weiß, als für das Wohl seiner Geliebten zu beten und sich angesichts der Lage das Leben zu nehmen.
Durch diesen Flashback wird der Leser an das Geschehen heran geführt und, um so wichtiger, lernt er Jeronimo, die Gründe für seine aktuelle Situation und seine Emotionen kennen. Hierdurch wird Sympathie beim Leser hervorgerufen und das Spannungselement entwickelt. Die Identifikation, oder auch nur die Sympathie zu den Charakteren ist bereits bei Aristoteles essenziell für die Emotionsentwicklung während des Erfolgs oder des Scheiterns der Charaktere. Ohne eine Verbindung des lesenden Äußeren mit dem handelnden, oder in der klassischen griechischen Tragödie vom Schicksal gebeutelten, Inneren, ist die Läuterung, die Katharsis, die von Hochmut und all ihren unangenehmen Begleiterscheinungen befereien soll, nicht möglich.
Nachdem also die Beziehung zwischen dem Leser und dem Inhalt hergestellt wurde, geschieht das Erdbeben, welches Jeronimo die Flucht aus dem Gefängnis ermöglicht. Nahezu hilflos und blind versucht er einen Weg aus der im Chaos versinkenden Stadt zu finden.
Für weitere Infos: Wikipedia Artikel Chili
Aristoteles Schrift „Poetik“ lehrt ausrdücklich, wie ein gelungenes Werk aufgebaut sein soll um seine Wirkung nicht zu verfehlen. Diesen Anweisungen nach darf nicht gezeigt werden, wie einem schlechten Menschen etwas gutes widerfährt (dies wäre nicht angemessen), ein guter Mensch vom Glück ins Unglück kommt (dies möchte keiner sehen/lesen und es wäre verwerflich einem guten Menschen schlechtes widerfahren zu lassen), oder einem schlechten, unglücklichen Menschen noch mehr Unglück zuteil werden lassen (dies wäre unmenschlich).
Die einzige Lösung ist also, dass einem guten Menschen ein Unglück durch einen Irrtum widerfährt. Und was würde sich zum irren mehr eignen, als die Liebe. Ein unbeeinflussbares Etwas, das auch gerne an Orten entsteht, an denen sie nicht sein sollte. Sie achtet keine Standesgrenzen oder Verbote. Diese machen es meist nur attraktiver.

Das Erstsemesterchen wollte beim ersten Treffen gerne das Werk im Hinblick auf den christlichen Glauben untersuchen. Hierzu wurden Überlegungen angestellt, wo sich etwas im Glaube der Protagonisten oder der Gesellschaft wann ändert, wie dieser die jeweiligen Leben beeinflusst, wo Parallelen zu anderen Geschichten bestehen, und was evtl. kritisiert wird.

So kommt man vom Bild des liebenden vs. strafenden Gottes zum Theodizeeproblem und somit zu Geschichten von Ninive, Babylon und Sodom. Vom Vater, der den eigenen Sohn „opfert“ (Jeronimo wird von seinem Vater mit einer Keule erschlagen) zu Gott selbst, wie er seinen Sohn zum Wohl der Menschheit opfert, der Prüfung, der er Moses unterzieht, etc. Von der Keule könnte man nun auch Überlegungen anstellen, dass diese, das Bürgertum symbolisierende Waffe maskulinere Eigenschaften hat, als das Bajonett des Adels (auch Herakles wird gerne mit der Keule dargestellt, was man schön an den unzähligen Plastiken in Wien sehen kann) ob diese Tötung nun eher als Sieg des männlicheren Vaters über den Standesgrenzen missachtenden Sohn ist, der somit auch als Symbol für die alte Ordnung einer unaufgeklärten Zeit steht, einem patriarchalischen „Extrem“.

Auch drängt sich die Frage auf, ob der christliche Glaube in seiner dargestellten Form für eine aufgeklärte Gesellschaft von Nutzen ist, da das Paradies in Kleists „Erdbeben in Chili“ eine ideale Gesellschaft zeigt, die frei von Standesunterschieden in Frieden lebt, bevor sie vom Glauben geleitet zurück in die Stadt drängt. Ebenso lassen sich Vermutungen anstellen, inwiefern gemeinsam erlebtes Leid zusammen schweißt und Unterschiede aufhebt. Zur oben erwähnten idealen Gesellschaft drängt sich natürlich auch Platons Atlantis auf. Eine Utopie, die ebenso durch Naturgewalten erschüttert wurde und letztendlich versank.

Bisher lässt sich wohl anmerken, dass in dem kleinen Reclamheftchen weit mehr steckt, als man auf den ersten Blick vielleicht vermuten mag.
Das nächste Treffen steht ins Haus, mal sehen, welche Ideen diesmal angedacht werden.

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