Heinrich von Kleists „Erdbeben in Chili“, ein Buch, dessen Existenz völlig an mir vorüber ging war heute Gegenstand eines 3 stündigen Bildungsgesprächs mit einem Erstsemesterchen mit den Studienfächern SozPäd und Deutsch. Sie möchte Berufsschullehrerin werden. Ein reizendes Ding. Hergestellt wurde der Kontakt durch eine Kollegin – ihre Mutter – und meiner Unfähigkeit Gelegenheiten mit Ratschlägen um mich zu werfen auszulassen. Bis heute, so gegen 12h hatte ich nicht einmal mehr an das vereinbarte Treffen gedacht. 16h an der Universitätsbibliothek war der Plan. Allerdings war mir nach der Physiotherapiesitzung und dem schlechten Schlaf nachts so gar nicht danach jemandem bei seiner Hausarbeit zu helfen. Noch dazu über ein Thema, von dem ich nicht den leisesten Schimmer hatte. Also war der Plan sich zuhause ein wenig aufs Ohr zu hauen und in der verbleibenden Stunde nach dem Nickerchen mit der Raumtheorie Lotmans und dem Inhalt Kleists „Erdbeben in Chili“ auseinanderzusetzen. Dann noch schnell für das Blind Date mit der Dame die „rote Rose ans Knopfloch geheftet“ und ihr das Erkennungsmerkmal elektronisch mitgeteilt, damit wir nicht vor der Bibliothek unerkannt aufeinander warten. Als Grundlage diente der Wikipediaartikel zu Kleists Novelle und durch kurzes gegoogle aufpoliertes Wissen um Lotmans Raumtheorie. Lotmans Raumtheorie ist eine Erzähltheorie in der Tradition von Ferdinand de Saussures Strukturalismus.
Für Lotman ist das Ereignis die kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus. Klar soweit.
Die einzige Lösung ist also, dass einem guten Menschen ein Unglück durch einen Irrtum widerfährt. Und was würde sich zum irren mehr eignen, als die Liebe. Ein unbeeinflussbares Etwas, das auch gerne an Orten entsteht, an denen sie nicht sein sollte. Sie achtet keine Standesgrenzen oder Verbote. Diese machen es meist nur attraktiver.
Das Erstsemesterchen wollte beim ersten Treffen gerne das Werk im Hinblick auf den christlichen Glauben untersuchen. Hierzu wurden Überlegungen angestellt, wo sich etwas im Glaube der Protagonisten oder der Gesellschaft wann ändert, wie dieser die jeweiligen Leben beeinflusst, wo Parallelen zu anderen Geschichten bestehen, und was evtl. kritisiert wird.
So kommt man vom Bild des liebenden vs. strafenden Gottes zum Theodizeeproblem und somit zu Geschichten von Ninive, Babylon und Sodom. Vom Vater, der den eigenen Sohn „opfert“ (Jeronimo wird von seinem Vater mit einer Keule erschlagen) zu Gott selbst, wie er seinen Sohn zum Wohl der Menschheit opfert, der Prüfung, der er Moses unterzieht, etc. Von der Keule könnte man nun auch Überlegungen anstellen, dass diese, das Bürgertum symbolisierende Waffe maskulinere Eigenschaften hat, als das Bajonett des Adels (auch Herakles wird gerne mit der Keule dargestellt, was man schön an den unzähligen Plastiken in Wien sehen kann) ob diese Tötung nun eher als Sieg des männlicheren Vaters über den Standesgrenzen missachtenden Sohn ist, der somit auch als Symbol für die alte Ordnung einer unaufgeklärten Zeit steht, einem patriarchalischen „Extrem“.
Auch drängt sich die Frage auf, ob der christliche Glaube in seiner dargestellten Form für eine aufgeklärte Gesellschaft von Nutzen ist, da das Paradies in Kleists „Erdbeben in Chili“ eine ideale Gesellschaft zeigt, die frei von Standesunterschieden in Frieden lebt, bevor sie vom Glauben geleitet zurück in die Stadt drängt. Ebenso lassen sich Vermutungen anstellen, inwiefern gemeinsam erlebtes Leid zusammen schweißt und Unterschiede aufhebt. Zur oben erwähnten idealen Gesellschaft drängt sich natürlich auch Platons Atlantis auf. Eine Utopie, die ebenso durch Naturgewalten erschüttert wurde und letztendlich versank.
Bisher lässt sich wohl anmerken, dass in dem kleinen Reclamheftchen weit mehr steckt, als man auf den ersten Blick vielleicht vermuten mag.
Das nächste Treffen steht ins Haus, mal sehen, welche Ideen diesmal angedacht werden.